Ich weiß nicht, was sich heutzutage in den Hosentaschen der 6-8-jährigen Jungen in Gevenich befindet. Um 1950 waren es Schätze. Neben den Klickern im Frühjahr waren es mit Sicherheit Kordel und ein Taschenmesser. Jeder richtige Junge hatte ein Taschenmesser, sein ganzer Stolz. Und manchmal half es, eine Weidenflöte zu basteln, denn Weiden waren bestens dazu geeignet, und die gab es in den nassen Wiesen zuhauf. Direkt im oberen Sehlenpesch, praktisch vor unserer Haustür, und wenn so eine Flöte nach vielen Versuchen klappte, dann war das ein Riesenerfolg, aber selten klappte es auf Anhieb, denn dazu brauchte man etwas Geschick und vor allem Geduld.
Kein Opa bringt heute den Jungen mehr bei, wie man eine Flöte baut, warum auch? Früher war das anders, eine Flöte, das war Zeitvertreib beim Kühe hüten und ein Mitbringsel für die Kinder, denn gekauftes Spielzeug war praktisch unbekannt, und die Natur lieferte alles, was man nur brauchte. So war es schon immer.
Und man brauchte nur wenig. Von einem gut 1cm dicken astlosen Zweig einer Weide, die jetzt im vollen Saft stand, wurde ein etwa 15 cm langes Stück abgeschnitten. Und war gerade keine Weide in der Nähe, dann tat es auch Holunder, der damals wie heute überall wuchs.
Wie Abbildung 2 zeigt, wurde am oberen Ende, das als Mundstück vorgesehen war, eine halbrunde Kerbe in das Holz geschnitten. Am vorgesehenen Ende des Mundstücks wurde (nur) die Rinde kreisförmig eingeschnitten. Und jetzt war Geschick gefragt, denn das Stück Weideästchen wurde auf den Oberschenkel gelegt, und man klopfte mit dem Messergriff der zwischen Daumen und Zeigefinger gehalten wurde, so lange rundum, bis sich die Rinde vom Holz lösen/abziehen ließ. Abbildung 3 zeigt als Ergebnis die heil gebliebene, saftige Rinde. Von dem nun rindenlosen Ästchen wurde, wie Abbildung 4 zeigt, das Holzstück bis zur Einkerbung abgeschnitten und an einer Seite abgeflacht, damit später beim Blasen die Luft bis zur Kerbe frei Bahn hatte. Nun wurde dieses kleine abgeflachte Halsstück von oben bis zur Kerbe in die Rindenhülle geschoben. Das Mundstück war fertig. Im letzten Arbeitsschritt wurde dann das längere, blanke Holzstück von unten in die längere Rindenseite geschoben, und die Flöte war damit spielbar. Je weiter nun das untere Stück in die Rinde geschoben wurde, desto heller war der Ton, weil die Luftsäule auch kürzer war.
Ein Wermutstropen war, dass die Flöte nur so lange funktionierte, so lange der als Gleitmittel dienende Saft vorhanden war, und das dauerte nur 1 oder 2 Tage, auch wenn man die Flöte über Nacht ins Wasser legte. Die meisten Flöten allerdings wurden aus Stork gemacht, wie der dickstänglige Wiesenkerbel in Gevenich hieß, den es in allen Wiesen in Hülle und Fülle gab. Außerdem war eine Flöte sehr viel schneller fertig.
Peter Kremer, der 1901 in Kaisersesch geboren wurde und nach seinem Abitur in Cochem und dem Lehramtsstudium an den Gymnasien in Wittlich und Bernkastel unterrichtete, war über viele Jahre auch als Volksschriftsteller tätig. Von ihm stammt folgende kleine Geschichte aus der Eifel (eine Generation früher), die im April1961 in der Heimatbeilage der Rheinzeitung veröffentlicht wurde.
Meine kleine Weidenflöte
Man muß beim Anfertigen einen "Zauberspruch" sagen
Auf der kleinen Brücke sitzt ein Junge, darunter her fließt der muntere Bach. Er sitzt im hellen Sonnenschein wie ein Schneider und hält in der linken Hand ein daumendickes Weidenstück. An dem einen Ende hat er es weiß geringelt, das andere hat er auf seinen Absatz gelegt. Immerfort dreht er das saftige Holz, während er mit dem Heft seines Taschenmessers, das er an der Klinge gepackt hält, darauflos hämmert, im Takt und unermüdlich. Dazu murmelt er dunkle Worte, ich kann nur eine summende Melodie hören. Er will sein Werk beschwören, damit sich der Bast vom Zweigholz löse.
Ich bleibe stehen Heimweh nach der eigenen Kindheit hat mich befallen. Da sitzt nun ein Junge auf dem Brückenstein des Eifelbächleins, macht sich eine Weidenflöte und singt leise einen Vers, einen uralten Zauberspruch
Hip hap, hup!
Wenn de Huupe kraachen, mos mer neie maachen, hip, hap, hup!
Nun hört er auf, steckt das weiße Ende in den Mund und beißt zu. Mit. beiden Händen dreht er kräftig an der Schale; aber sie will sich noch nicht lösen. Wieder schlägt er mit dem Messergriff darauf, wieder spricht er die Beschwörung; diesmal versucht er es mit einem anderen Zauberspruch:
Saft, saft, seiden, de Schlange en de Weiden, de Kröte en de Baach, dat mein Hup - Hup auskraacht!
So, nun ist die Rinde gelockert, leicht zieht er die Röhre vom Holz. Kein Riß ist an ihr. Das Hauptwerk ist getan, bald wird die kleine Hupe flöten. Unbeholfen und kindlich, aber froh wird das Liedlein in diesen sonnigen Frühlingstag blühen, wie die hellen Gänseblümchen auf der Wiese.
Das Weidenliedchen klingt in mir nach, wie ich meinen Weg fortsetze. Wie lange ist es her, daß ich selbst Weidenflöten klopfte! Hinter dem Dorfe, wo es niemand sieht, schneide ich einen treibenden Weidenstab ab und will es noch einmal versuchen. Beim Klopfen singe ich beschwörend und raunend das Weidenlied der eigenen Kinderzeit, den Südeifeler und Hunsrücker Lösespruch, eintönig klingt seine Melodie:
Saft, saft, siele,
Korn in de Mühle,
Stan in de Baach,
de Hup es noch net gemaach.
Mutter, gib mir Pfennige!
Wat duste mit den Pfennige?
Nadeln kaufen - Nadeln kaufen.
Wat duste mit den Nadeln?
Säckelcher flicken Säckelcher flicken.
Wat duste mit den Säckelcher?
Stäncher raffen - Stäncher raffen.
Wat duste mit den Stäncher?
Vigelcher werfen - Vigelcher werfen.
Wat duste mit den Vigelcher?
Braten - braten.
Jetzt ist mei Pfeifche gut geraten!
Mein Werk gelingt. Die Flöte ist fertig, sie klingt wie ein Amselruf. Froh wie ein Kind wandere ich flötend weiter. Da begegnet mir ein Bauersmann; er macht einen Bogen um mich und tippt an seinen Kopf. Ich werde rot und stecke die kleine Weidenflöte hastig in die Rocktasche. Hernach schenke ich sie einem Jungen, der am Waldrand zwei Ziegen hütet.
Peter Kremer
Nützliche Hinweise zum Thema finden sich auch bei Johannes Nosbüsch, Als ich noch bei meinen Kühen wacht ... und in der Heimatbeilage der Rheinzeitung vom August 1995 Peter Weber, Spielzeug wurde daheim hergestellt.
Die Abbildung wurde entnommen aus Johanna Woll, Alte Kinderspiele, S. 89