Wer ist wer vor dem Umzug?

Die meisten Junggesellen konnten von älteren Gevenichern identifiziert werden außer den Jugendlichen mit der Nummer 13 und 14.

Einführende Vorbemerkung

AdlerWir schreiben das Jahr 1911. Willi Kalmes wohnt mit seinen Eltern unweit von Metz, der Hauptstadt Lothringens, das nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 wie das Elsaß von Frankreich an das neu gegründete Deutsche Reich abgetreten werden musste.

Willi Kalmes besuchte die Volksschule seines Heimatortes Devant-les-Ponts, als eine Einladung seines Onkels Jacob aus der fernen Eifel, aus Gevenich, eintraf. 75 Jahre später erinnert sich Willi Kalmes im Rückblick auf sein Leben genau an dieses erste große Erlebnis seiner Kindheit, ein Bericht, der für uns deshalb von bleibendem Interesse ist, weil wir hier, abgesehen von der Schul- und Pfarrchronik, den ältesten authentischen Bericht über Gevenich aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg haben, eine lebendige Momentaufnahme, die viele Erinnerungen weckt und einige Fragen aufwirft.

Reise von Metz nach Gevenich

Im November erhielt meine Mutter von ihrem Bruder Jacob Arenz in Gevenich die Einladung zur Kirmes mit der dringenden Bitte, diesmal bestimmt zu kommen. Die Kirmes war immer ein großes Fest, verbunden mit einem Familientreffen.

Mutter hatte ihren Bruder lange nicht mehr gesehen und wollte fahren. Ihr Bruder hatte eine Gastwirtschaft mit einem Tanzsaal, dazu noch eine Krämerei. Vater war einverstanden, und Mutter traf die Reisevorbereitungen. Wenn ich damit fahren könnte! Eine große Reise mit der Eisenbahn! Das wäre ein Erlebnis.

Ich faßte mir ein Herz und bat nicht, nein, ich bettelte bei jeder Gelegenheit bei meiner Mutter, mich doch mitzunehmen. “Lieber Junge, das geht doch nicht, du mußt doch zur Schule.” Ja, die war leider das große Hindernis. Würde ich einige Tage frei bekommen? Da mußte ich Lehrer Pfister fragen, und davor hatte ich bei meiner Schüchternheit Hemmungen. Aber der Gedanke an die große Reise gab mir Mut. Ich wollte mit in das mir unbekannte Land, denn schließlich ging es über die lothringische Grenze hinweg in die preußische Rheinprovinz.

“Herr Lehrer, ich habe eine große Bitte. Meine Mutter muß zu ihrem Bruder nach Cochem fahren, da er schwer erkrankt ist. Da mein Vater unmöglich abkommen kann, soll ich die Mutter begleiten. Ich bitte deshalb um einige Tage Urlaub. Was ich in der kurzen Zeit versäume, werde ich bestimmt nachholen. Das verspreche ich.”

Gevenich als Reiseziel zu nennen, hielt ich nicht für sinnvoll. Da hätte er unter Umständen lang und breit gefragt, ob es diesen Ort überhaupt gebe oder wo er liege.

Wie stellst du dir das vor? Das wäre ja ein Sonderurlaub und das zwei Monate nach den Herbstferien. Hm, einige Tage? Ich weiß nicht, ich weiß wirklich nicht. Bei deinen Leistungen.
Papa begleitete uns am andern Morgen zum Bahnhof Metz-Nord.  Endlich lief der Personenzug ein. Wir stiegen ein. Nur wenige Leute waren im Abteil. Die Türen wurden geschlossen. Dann ein Pfiff und mit Gebraus dampfte der Zug ins Land hinaus.

Die Abteile vierter Klasse waren groß und geräumig und so konnte ich, ohne einen Mitreisenden zu stören, abwechselnd zu dem einen oder anderen Seitenfenster flanieren, mußte ich beim Einlaufen in einen Bahnhof doch immer feststellen, auf welcher Seite der Bahnsteig lag. Schließlich wollte ich die meist bäuerlich gekleideten Leute auch beim Aus- oder Einsteigen beobachten. Der Zug fuhr immer erst dann ab, wenn der uniformierte Bahnhofsvorsteher mit einer Trillerpfeife einen Pfiff abgab und mit der Kelle winkte.

Hinter Trier fuhr der Zug über eine Moselbrücke und dann war sie fort. Nicht die Brücke  sondern die Mosel. Erst viel später sah ich sie wieder. Wir fuhren jetzt über die Eifel. Ab und zu wurde es plötzlich dunkel. Wir durchfuhren dann einen Tunnel. Wie aufregend. An dieser Strecke lagen auch die Stationen Schweich und Bengel. Meine Mutter erzählte mir von einem Bauer, der sich, wenn der Zug hielt, ab und zu erkundigte, welche Station das sei. In Schweich öffnete er das Fenster und rief dem Schaffner zu: “Wo sind wir hier?” “Schweich”, rief der Schaffner zurück. Dieser Grobian, dachte der Bauer. Ich habe doch anständig gefragt. Nach einiger Zeit faßte er jedoch wieder Mut, steckte den Kopf zum Fenster hinaus und rief dem Schaffner freundlich zu: “Herr Schaffner, welches Station ist das hier?” “Bengel!” Das war nicht nur ein rauher Ton, das war unfreundlich und der Bauer nahm sich vor, nie mehr zu fragen, solange Bahnbeamte so unhöflich sein durften.

Bei der Weiterfahrt war die Mosel links von uns, dann ging‘s wieder durch einen Tunnel und eine Moselbrücke hinweg nach Eller. Die Mosel war verschwunden. Ich wurde nicht klug daraus. Und dann fuhren wir durch einen langen, sehr langen Tunnel (den Kaiser-Wilhelm-Tunnel, 1877 in Betrieb genommen, 4205 Meter lang, mit einem Kostenaufwand von 8 825 000 Goldmark aus der französischen Kriegsentschädigung gebaut) und waren dann gleich in Cochem, unserer Zielstation, angekommen.

Zwischenzeitlich war es dunkel geworden, über acht Stunden waren wir mit dem Zug gefahren. Von dem schönen Cochemer Bahnhof konnten wir nicht viel sehen. Es brannten nur wenige Gaslampen. Vom Bahnhof gingen wir eine kurze Straße hinunter zum Bierverleger Holtschier, der noch eine Fuhre Bier nach Gevenich hatte und uns mitnehmen sollte. Das war so vereinbart. Wo Gevenich lag, wußte ich nicht, nahm mir aber vor, die ganze Reiseroute später auf einer Landkarte zu verfolgen.

Das Fuhrwerk mit zwei Pferden stand bereit. Der Fahrer saß bereits auf dem Bock. Mutter und ich kletterten auch hinauf. Die Koffer waren auf dem Wagen verstaut. Die Pferde zogen an. Es ging los, über eine einsame Straße entlang der Mosel und dann durch düster wirkende Gassen den Bergweg hinauf. Es brannten nur einige Gaslaternen und nur wenige Menschen waren auf den Straßen. Dann umgab uns Dunkelheit.

Die Pferde mußten kräftig ziehen. Es ging die kurvenreiche holprige Landstraße empor zur Berghöhe, wir fuhren durch ein verschlafenes Dorf (Faid) und über eine Höhe. Dann ging es bergab. Links zweigte eine Straße ab und dann tauchten die Umrisse von Häusern, auf. Wir waren in Gevenich. Der Wagen hielt auf einem kleinen Platz vor dem Hause meines Onkels. Durch einige Fenster schimmerte Licht. Überall gab es nur Petroleum- oder Kerzenbeleuchtung.

Onkel und Tante nahmen uns herzlich auf, die Bewirtung war großartig. Zur Kirmes hatten viele Schweine im Ort dran glauben müssen.

Ich hatte in den nächsten Tagen Gelegenheit, das kleine Gevenich und seine Umgebung kennenzulernen. Die Einwohner waren Kleinbauern oder Arbeiter. Ihr Leben war bescheiden, wenn nicht arm. Der Besitz einer Kuh machte schon wohlhabend. Man ging mit der Dunkelheit schlafen, um Petroleum oder Kerzen zu sparen, und vielen mag beim Einschlafen noch der Magen geknurrt haben, weil das Abendessen gar zu mager ausgefallen war.

Mit meinen Vettern durchstreifte ich in diesen Tagen die anmutigen Wiesentäler der Umgebung. In den kleinen Rinnsalen und Bächlein sahen wir Forellen und Krebse. Wir hätten sie fragen können. Das Wasser war so klar und rein, daß man es ohne weiteres trinken konnte. Kunstdünger kannte man damals noch nicht. Auf die Äcker kam nur Stallmist. Da dieser nicht ausreichte, blieb jedes Jahr ein Drittel des Bodens brach liegen, damit er neue Kräfte sammeln konnte.

Ich könnte noch so viel über den Verlauf der Kirmes berichten, aber das würde zu weit führen. Vier volle Tage blieben wir in Gevenich, am Donnerstag erfolgte die Rückfahrt.  (von Willi Kalmes. Auszug aus der Beilage der RZ, April 1986)
 

Anmerkungen

Jacob Arenz kennen wir schon von früheren Berichten her. 1901 kam er von Moselkern nach Gevenich und kaufte das Anwesen der jüdischen Familie Dahl mit Gasthaus, das er weiter führte. 1910 fügte er einen Erweiterugsbau an. Ein wichtiger Hinweis ist nun, dass J. Arenz schon 1911 einen Kramladen im Ort betrieb. Das ist neu, denn bisher galt die Vermutung, dass erst sein Sohn Hennes mit seiner Frau Gertrud Mitte der 20er Jahre das Geschäft eröffnet hätten. Die Frage bleibt, ob er diesen Kramladen nicht wie die Wirtschaft schon von Dahls übernommen hat, die ja auch die Erlaubnis hatten, einen Laden zu führen. Wahrscheinlicher ist aber, dass dieser Laden nach dem Umbau 1910 eingerichtet wurde. Damit hatte das kleine Gevenich - und das ist schon bemerkenswert - 2 Läden. Diesen Schluss erlaubt ein Vermerk aus der Schulchronik für das Jahr 1904. “Das Haus des frühern Försters Herrn Schwind ging durch Versteigerung an Herrn Pet. Martin Keßeler über, der im Jahre 1904 ein Kolonialwarengeschäft errichtete. So hat sich das Dorf auch gewerblich empor gearbeitet. Während man früher fast alles in Kochem kaufen musste, kann man die täglichen Einkäufe jetzt hier besorgen.”  

Kolonialwaren, eröffnet 1904 von Martin Keßeler, nach dem 1. Weltkrieg. (Das Foto wurde von B. Allar zur Verfügung gestellt.)

Martin Keßeler übertrug das Geschäft seinem Sohn Franz Jusepp, der es seinem Sohn Peter Keßeler weiter vererbte. Die “Älteren” erinnern sich noch genau an das Geschäft von “Kosta Pitta”, das er nach dem Tode seiner Frau bis ins hohe Alter weiter führte. Die letzten Jahre wurde er dann von “Franze Gritt” (Margarete Keßeler) unterstützt. Es wäre für Gevenich ein Glücksfall, wenn sich wenigstens Teile der alten Unterlagen wiederfänden, die vor vielen Jahren im Zimmer der verstorbenen Tante entdeckt wurden.

Die ärmlichen Verhältnisse der kleinen Gevenicher Bauernbetriebe können nicht kürzer und treffender angesprochen werden, als es in diesem Reisebericht geschieht. Wie die Alten  früher noch wussten, zählte die Gemeinde vor dem 1. Weltkrieg wie Auderath  zu den ärmsten Orten der ganzen Gegend. Ein Blick auf das vergrößerte Foto aus der Geschichte des Junggesellenvereins gibt uns eine kleine Ahnung davon. Festlich herausgeputzt stellen sich die Jugendlichen auf, aber ihre Schuhe stehen mitten auf der Hauptstraße im Schlamm!!. Und “Arenze Hennes” wusste ein Lied davon zu singen. Wenn es vor einer Tanzveranstaltung geregnet hatte, dann konnte der getrocknete Schlamm am nächsten Morgen nur mühsam vom Saalboden abgespachtelt werden. Entsprechend sah es nach den Gottesdiensten in der Kirche aus. Noch in den 50er Jahren mussten die Nebenstraßen wie die Bachgass “abgekesselt” werden.

Die Bedeutung der Kirmes als dem Hochfest des Jahres, an der sich die ganze Verwandtschaft einfand und die entsprechende Vorbereitungen erforderte,  wird angesprochen wie die Situation vor der Elektrifizierung des Ortes. Heute ist kaum noch vorstellbar, dass im Winter das spärliche Licht des flackernden Herdfeuers in der Küche die einzige genutzte Lichtquelle in vielen Häusern war.