Eine Tracht ist eine ernste Sache. Sie spiegelt Werte und Ordnungen einer Gesellschaft und ist alles andere als das, was heutzutage von fest- und feierfreudigen Schlaumeiern allenthalben als bodenständiges Brauchtum vor die einsatzbereiten Kameras der Touristenströme gelockt wird.

Mit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs 1919 sind auch die Werte und Vorstellungen der Menschen zerbrochen, die die Gesellschaft in Stadt und Land über die Jahrhunderte zusammen gehalten hatten. Was Generationen lang Gültigkeit hatte, stimmte immer weniger. Altüberlieferte Gesellschaftsstrukturen bekamen Risse, und Autoritäten in Kirche und Staat wurden hinterfragt. Die Zeiten hatten sich geändert, alles bröckelte, und Unsicherheit breitete sich aus.

Auch die Tracht hatte weitestgehend ihren Sinn verloren und war für die neue Generation, die sich mit der Tradition schwer tat, nur noch Hülle, die als “altmodisch” galt und den neuen Moden aus der Stadt zunehmend weichen musste. Ehrlicherweise verschwand sie immer mehr aus dem Alltag unserer Dörfer und hat bestenfalls in wenigen Beispielen einen musealen Platz gefunden. Kleider machten und machen noch immer Leute. So war sie auch in unseren Dörfern über Hunderte von Jahren Trägerin einer wichtigen Botschaft.  Heute weiß kaum noch jemand, dass es überhaupt eine Tracht gab, welche Rolle sie spielte, weiß niemand mehr.

Jeder Lebensabschnitt hatte nicht nur für Kleidung und Haartracht seine eigene, streng gewahrte Ordnung. Jeder im Dorf war in besonderer Weise in die Bräuche des Jahres, aber auch in die Arbeit und Pflichten der Familie wie des Dorfes eingebunden. Man wusste , was sich “schickte”. Als Mädchen oder Junge hatte man seine eigenen Spiele, als Mann oder Frau seine eigenen Aufgaben wie seine seit ewig fest geschriebenen Bankreihen in der Kirche. Und wenn um 6 Uhr abends die Glocke zum Gebet läutete, dann standen seit Generationen die Männer hinterm Backes von ihrer Bank auf und schickten die Kinder nach Hause, wo sie so spät hingehörten. So war es immer schon.

Die jung verheiratete Frau trug als äußeres Zeichen ihres neuen Standes das Kamotchen, das mit seinen lebensbejahenden, frohen Farben als sichtbares Zeichen nach außen die Zuversicht für eine gemeinsame Zukunft ausdrückte, wie der Blumenflor, die grünen Ranken oder der perlengestickte Lebensbaum Fruchtbarkeit und Gedeihen geradezu beschworen.


Ein gesticktes Ohrenmützchen

Die “Einbuchtung” hatte den Sinn, das Häubchen besser um den Haarknoten legen zu können.

Wenn mit der körperlichen Reife und der 1. Heiligen Kommunion das Ende der Kindheit gekommen war, änderte sich vor allem für die Mädchen viel. Als äußeres Zeichen ihrer neuen Stellung durften sie nun ein kleines Häubchen - meist aus verstärktem Batist, Samt oder selten auch aus Seide - um den Hinterkopf tragen. Die reiche Perlenverzierung setzte einen zusätzlichen, heiteren Akzent. Die neue Haartracht, die die Zöpfe der Mädchen abgelöst hatte und am Hinterkopf in einem kleinen Knoten endete, war eine wichtige Voraussetzung, um dieses Häubchen tragen zu können. Um es eng und fest an den Kopf pressen zu können, wurde ein hufeisenförmig gebogener Messingbügel durch das Mützchen gezogen, der über den Ohren um den Kopf spannte und an den Schläfen fest abschloss, das Ohreisen.


Mädchen aus Münstermaifeld in ihrer typischen Tracht

Links neben den Cochemer Mädchen ein Mann im typischen blauen Bauernkittel, der uns zu einem späteren Zeitpunkt beschäftigen wird.

Das schmucke Häubchen, das Ohrmützchen, war aber nur ein Teil der Tracht, die die Mädchen im heiratsfähigen Alter auf dem Maifeld und an der Untermosel bis in die Cochemer Gegend getragen haben. Der entscheidende Teil dieses Kopfschmuckes, der dem Ganzen seinen Sinn gab, war der “Tugendpfeil”, der durch den Knoten am Hinterkopf gesteckt wurde.  Dieser in der Regel feuervergoldete Messingpfeil war mit Blumenmustern fein ziseliert. Ein Ende des Pfeils war als Dreieck in durchbrochenem Relief mit Rocaille Ornamentik und einem mittig eingesetzten Engelsköpfchen gegossen. Die Geschichte dieses Pfeils soll über 1000 Jahre in die Frankenzeit zurückreichen, als junge Mädchen in ihrem Haar einen kleinen Dolch versteckten, um ihre Unschuld  verteidigen zu können. In unserer Gegend wurde das Ohrmützchen gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer weniger getragen. Der Tugendpfeil aber überlebte noch bis zum 1. Weltkrieg.


Die Geldscheine von Münstermaifeld (1921) mit der Darstellung des Tugendpfeils

Neben Häubchen und Pfeil ist auch eine Variante des bügelförmigen Ohreisens erkennbar.

Der Tugendpfeil mit durchbrochenem Griff wurde über 100 Jahre in Gevenich getragen.

Jungfrau bis zum Traualtar, wenn’s Gott will, bis zur Totenbahr war ein wichtiges, ungeschriebenes Gebot in der Eifel, und so bedeutete die Überreichung dieses über Generationen gehüteten Ehrenpfeils durch die Mutter nicht nur die symbolische Aufnahme in den Kreis der Erwachsenen, sondern auch eine Verpflichtung.  Und wenn das Mädchen diesen Pfeil sonntags zum Besuch der Messe trug, war das auch ein Bekenntnis.

Jeder Fehltritt oder der Verlust der Unschuld war eine Katastrophe, und niemand im Dorf hätte das Tragen dieses Pfeils länger geduldet. Die “Ehrlose” wurde nunmehr geächtet und gemieden. Am Gottesdienste durfte sie fortan nur noch im “Armsünderbänkchen” teilnehmen. In Gevenich war das die letzte Bank hinten an der Wand. Und so war sie auch öffentlich aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen. Niemand aus dem Ort hätte sie noch heiraten wollen/können. Ein Mensch wurde/war für immer gebrandmarkt, gebrochen. Das Leben im Dorf war für sie zu einem Leidensweg geworden, der sich täglich wiederholte, die grausame Kehrseite der “heilen” Welt auf dem Lande, die so erschreckend unmenschlich sein konnte.

Die “unbescholtene” Braut aber trat mit dem Tugendpfeil unterm Myrtenkranz vor den Traualtar und legte ihn am Abend des Hochzeitstages ab, um ihn für die kommende Generation in Ehren weiter reichen zu können.

Hilfsmittel:
Handschriftliche Aufzeichnungen aus Gevenich
Volkskunst im Rheinland, Ausstellungskatalog, Düsseldorf 1968
Adam Wrede, Eifeler Volkskunde, Frankfurt 1983
Adam Wrede, Rheinische Volkskunde 1923
Simon Schneider, Kamotche und Haarpfeil, Beilage Rheinzeitung März 1958
Walter Kölzer, Die "Haartracht mit Tugendpfeil"