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Geschichte kann Spaß machen und spannend sein, besonders wenn es um die Vergangenheit des Heimatortes geht, auch wenn es sich -wie hier- im Grunde um eine tragische Begebenheit handelt. Das habe ich in jüngster Zeit wieder einmal erleben dürfen.

Es fing damit an, dass mir vor ca. zwei Jahren Rudolf Tibo ein Urteil des ärztlichen Ehrengerichts in Koblenz aus dem Jahr 1912 übergab, dass er von seinem Bekannten Herr Rolf Abresch aus Kaltenengers erhalten hatte.

Ausgangspunkt dieses Urteils ist eine ärztliche Handlung eines Dr. Philippi aus Cochem im Januar 1912 an einem Gevenicher Kind.

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Herr Abresch, der durch seine Bekanntschaft mit Rudolf Tibo Gevenich kennt, gelangte in den Besitz des genannten Urteils, in dem der Ort Gevenich Ausgangspunkt einer gerichtlichen Auseinandersetzung ist. Herr Abresch überließ dieses handgeschriebene Urteil im Original dankenswerter Weise der Gemeinde Gevenich.

Die Handschrift indes erwies sich -jedenfalls für mich- als nur sehr schwer lesbar und weil ich noch ein paar andere Dinge zu erledigen hatte, verschob ich die Befassung damit auf später.

Anfang Dezember 2010 nun konnte ich mich dann intensiver mit dem Text beschäftigen, musste mir aber sehr bald meine Unzulänglichkeit eingestehen, den Text zu entziffern. Ich gab es also auf und bat Ewald und Franziska Jahnen sich der Sache anzunehmen. Nachdem beide den Inhalt auch für mich lesbar niedergeschrieben haben, hier nun das Urteil in seinem Wortlaut.

 

Nr. 4/12


Beschluß

Das ärztliche Ehrengericht für die Rheinprovinz und die Hohenzollnischen Lande hat in der ehrengerichtlichen Ermittlungssache gegen den praktischen Arzt

Dr. med. Alfred Kaufmann in Cochem

wegen Verletzung der Berufspflichten gemäß § 3 des Gesetzes vom 25. November 1899 in seiner beratenden Sitzung zu Coblenz vom 01. Juni 1912 in welcher anwesend waren:

1. Geheimer Sanitätsrat Dr. Trapet
2. Geheimer Sanitätsrat Dr. Krabbel
3. Geheimer Sanitätsrat Dr. Schoenemann
4. Geheimer Sanitätsrat Dr. Rumpe

als ärztliche Mitglieder

5. Landgerichtlicher und geheimer Justizrat König

als richterliches Mitglied

folgenden Beschluß erlassen.

Der Angeschuldigte wird frei gesprochen


Gründe:

Am 11. Januar des Jahres nachmittags gegen 5 Uhr wurde der praktische Arzt Dr. Philippi als Vertreter des praktischen Arztes Dr. Kaufmann in Cochem an das Krankenbett des am 07. August 1909 geborenen Aloysius Jahnen in Gevenich gerufen.
Das Kind war schwer an Diphtherie erkrankt und lag im Sterben. Um die Atmungsbehindernis zu beseitigen machte Dr. Philippi unter Assistenz des Pfarrers von Gevenich den Luftröhrenschnitt. Als Instrumente diente ihm ein Taschenmesser und 3 Haarnadeln. Die beteiligten Personen wuschen sich die Hände mit Seifenwasser und Brennspiritus, ebenso wurden die Instrumente in brennendem Spiritus abgeglüht. Nach Verlauf von 40 – 50 Sekunden gelang die Öffnung der Luftröhre unterhalb der Schilddrüsenenge zwischen den untersten Schilddrüsennerven hindurch, ohne jegliche Blutung. Die Atmung durch die geöffnete Luftröhre ging gut von statten.
Das Kind lebte so 1 ½  - 2 Stunden. Beim zweiten Versuch eine inzwischen durch den Chauffeur aus Cochem herbeigeholte Kanüle einzuführen blieb die Atmung wegen der Diphtherieschleimmassen aus. Nach dem Wiederbelebungsversuche ohne Erfolg geblieben waren, vernähte Dr. Philippi auf Wunsch der Mutter und des Pfarrers die Wunde mit 7 – 8 Zwirnnähten.
Am Abend des 12. Januar nahm der praktische Arzt Dr. Jacoby die Leichenschau vor, erstellte unterm 13. Januar eine Todesbescheinigung aus, in der es heißt:

Todesursache: Diphtherie u.s.w.

Nach Angabe des Vaters ist das Kind während einer Halsoperation gestorben. Als behandelnder Arzt zur Operation bezeichnete mir der Vater zuerst Herrn Dr. Kaufmann Cochem, später gab er an, daß dessen „Gehilfe“, dessen Namen er nicht kenne, operiert habe. Stillstand der Herztätigkeit und der Atmung. Todesstarre.

Unter einem Verband fand sich am Halse seitlich an der Mittelinie eine ca. 4 cm lange ungerade verlaufende, durch mehrere Nähte geschlossene Hautnarbe, welche der Schnittführung eines kunstgerechten Kehlkopfschnittes (Tracheotomie) nicht entsprach.
Gegen die Beerdigung  -während 3 x 24 Stunden- liegen ärztlicherseits Bedenken vor.

Diese Todesbescheinigung veranlaßte die königliche Staatsanwaltschaft in Coblenz ein Ermittlungsverfahren über den Tod des Aloysius Jahnen einzuleiten und die gerichtsärztliche Leichenöffnung anzuordnen. Am 16. Januar fand die Leichenöffnung durch die Kreisärzte Medizinalräte Dr. Thiele und Dr. Köppe unter Zuziehung der Ärzte Dr. Kaufmann, Dr. Jacoby und Dr. Philippi statt.

Das Gutachten der Gerichtsärzte lautet:

a. Das obduzierte Kind ist aller Wahrscheinlichkeit nach an Diphtherietis gestorben.
b. Der an demselben vorgenommene Luftröhrenschnitt, welcher unter den vorliegenden Umständen sofort vorgenommen werden mußte, steht mit dem Tode in keinem ursächlichen Zusammenhang. Derselbe ist trotz der Unzulänglichkeit der zur Verfügung stehenden Instrumente durchaus fachgemäß und kunstgerecht vorgenommen worden.

Auf keinen Fall trifft den behandelnden Arzt irgend ein nachweisbares Verschulden, es ist vielmehr anzuerkennen, daß der selbe unter diesen schwierigen Verhältnissen und ohne genügend mit Instrumenten und Assistenz versehen zu sein, den Luftröhrenschnitt so kunstgerecht vorgenommen hat.

Dr. Jacoby hat gegen Dr. Kaufmann Anzeige bei dem Ehrengericht erstattet weil er:

1. vor dem Termin teils auf offener Straße, teils in einem Jedermann zugänglichen Raum des Gevenicher Backhauses im Beisein von einem Pastor, seinem Chauffeur und vielen Bauern mit sehr lauter Stimme Reden geführt habe, welche bezweckten, seine und seines Freundes Dr. Philippi chirurgische Fähigkeiten und Leistungen in ein besonders günstiges Licht zu setzen, die es Dr. Jacoby herabzusetzen,
2. weil er versucht habe, auf das Gutachten von Herrn Dr. Köppe einen Einfluß auszuüben,
3. weil er Dr. Jacoby öffentlich mit einer Anzeige bei dem ärztlichen Ehrengericht gedroht,
4. weil er in der Ärztekonferenz die Fragen des Medizinalrats Thiele, ob Dr. Philippi sich noch ärztlich betätig, der Wahrheit widersprechend verneint habe, obwohl er wußte, das Tags zuvor Dr. Philippi bei einem Kind die Tracheotomie versucht hatte.

Zur Begründung der Anzeige hat Dr. Jacoby ausgeführt:
Vor Beginn des gerichtlichen Termins habe Dr. Kaufmann auf der Straße in Gegenwart mehrer Personen geäußert : sein Freund Philippi habe bei dem Kinde als es moribund* war, mit dem Taschenmesser eine Tracheotomie gemacht. Als es daraufhin gestorben, sei der Doktor aus Lutzerath zur Leichenschau gekommen und habe die fachgemäße Ausführung der Tracheotomie beanstandet. In dem Backhaus, in dem sich die Leiche befand, habe er dann in Gegenwart mehrer Laien seine und des Dr. Philippi chirurgischen Fähigkeiten hervorgehoben und erwähnt, daß Dr. Philippi bei Dr. Marel in Trier Assistent gewesen und schon viele Luftröhrenschnitte ausgeführt habe. Sodann habe Dr. Kaufmann ihn -Dr. Jacoby- mit den Worten angegriffen, er habe ihn durch den Totenschein kompromittiert.  Als Medizinalrat Dr. Koeppe hierauf geäußert, der junge Kollege Philippi, der in der Not die Tracheotomie mit dem Taschenmesser gemacht, verdien dafür Bewunderung und Anerkennung, habe Dr. Kaufmann sich an Dr. Köppe mit den Worten gewandt: Ich bitte Sie dies bei Ihrer gerichtlichen Vernehmung besonders zu betonen. Bei seiner Vernehmung durch den Richter habe Dr. Kaufmann behauptet, daß er besser als Dr. Jacoby den Luftröhrenschnitt auszuführen verstehe, und habe -unter Hinweis auf chirurgische Fälle, die er von Dr. Jacoby übernommen-, ihm die Fähigkeit über die sachgemäße Ausführung des Luftröhrenschnittes zu urteilen, abgesprochen. Als er weiter hierüber habe sprechen wollen, habe der Richter ihm das Wort abgeschnitten.
Weiter habe Dr. Kaufmann zur Eröffnung des Termin ihm gedroht, er werde die Sachlage dem Ehrengericht unterbreiten.
Der Angeschuldigte hat zu seiner Rechtfertigung angebracht:
Dr. Jacoby sei, während er sich auf der Ärztekonferenz in Cochem befand, telephonisch zu einer Leichenschau nach Gevenich gebeten worden; er -Kaufmann- habe daraufhin dem Dr. Jacoby den ganzen Hergang der Operation erzählt. Als nun einige Tage nachher infolge des von Dr. Jacoby ausgestellten Leichenscheines von der Staatsanwaltschaft eine Vorladung wegen fahrlässiger Tötung erhalten habe, sei er in höchstem Grade erregt und entrüstet gewesen. Dieser Entrüstung habe er vor und bei dem gerichtlichen Termin in Gevenich Ausdruck gegeben. Nicht um den Medizinalrat Dr. Koeppe zu beeinflussen, sondern um die Haltlosigkeit des Verdachts der fahrlässigen Tötung klar zu stellen, habe er den obduzierenden Arzt gebeten, in der Leichenöffnungsverhandlung zu betonen, daß der Luftröhrenschnitt sachgemäß gewesen sei.
Seinem Freund Dr. Philippi habe er allerdings geraten, Dr. Jacoby beim Ehrengericht anzuzeigen, später habe er aber von einer Anzeige Abstand genommen, weil er zu der Überzeugung gekommen sei, daß Dr. Jacoby sich der Tragweite seines Handelns nicht bewußt gewesen sei. Was seine Unterhaltung mit dem Medizinalrat Dr. Koeppe auf der Ärzteversammlung in Cochem anlange, so sei der Inhalt dieses Gespräches nicht für das Ohr des Antragstellers bestimmt gewesen.

Der Angeschuldigte hat sich einer Verfehlung gegen § 3 des Gesetzes vom 25. November 1899 nicht schuldig gemacht.

Durch das Gutachten der Gerichtsärzte Medizinalräte Dr. Thiele und Koeppe steht fest, daß der Luftröhrenschnitt durchaus sachgemäß und kunstgerecht ausgeführt worden ist und daß er mit dem Tode des Aloysius Jahnen in keinem ursächlichen Zusammenhang steht. Da dem Dr. Jacoby  unmittelbar bevor er sich zur Leichenschau nach Gevenich begab, von Dr. Kaufmann der ganze Hergang der Operation und die besonderen Umstände unter denen sie erfolgt war, mitgeteilt worden war, lag für Dr. Jacoby kein Anlaß vor, die Beerdigung zu beanstanden und in dem Leichenschein zu bemerken, daß das Kind während der Operation gestorben sei und daß die vernähte Hautnarbe der Schnittrichtung eines kunstgerechten Kehlkopfschnittes nicht entspräche. Wenn nun Dr. Kaufmann vor und während des gerichtlichen Termins in Gevenich mit Nachdruck betonte, daß ein Kunstfehler bei der Operation nicht begangen sei, und daß der Luftröhrenschnitt mit dem Tode des Kindes nicht in ursächlichem Zusammenhang stehe, so handelte er in Wahrung berechtigter Interessen. Dr. Kaufmann und sein Vertreter Dr. Philippi, gegen die sich der Verdacht der fahrlässigen Tötung richtete, waren durchaus berechtigt, diesem Verdacht energisch entgegen zu treten und die anwesenden Eltern und Einwohner von Gevenich über die Haltlosigkeit des Verdachtes aufzuklären. Das Gleiche gilt bezüglich der Bitte an den Medizinalrat Dr. Thiele, die sachgemäße Ausführung des Luftröhrenschnittes in dem Obduktionsprotokoll hervorzuheben. Wie hier eine Beeinflussung des Gerichtsarztes liegen soll, ist um so weniger erfindlich, als Dr. Thiele nach der eigenen Darstellung des Antragstellers vorher geäußert hatte, der junge Kollege, der in der Not die Tracheotomie mit dem Taschenmesser gemacht, verdiene Bewunderung und Anerkennung. Weiter bietet auch die Äußerung des Dr. Kaufmann, er werde Dr. Jacoby bei dem Ehrengericht anzeigen, keinen Anlaß zu einer Ahndung, da Dr. Kaufmann sich, als er die Äußerung fallen ließ, in einer, durch den Inhalt des Totenscheines und der gerichtlichen Vorladung erklärlichen und gerechtfertigten Erregung befand.
Was endlich die angeblich wahrheitswidrige Mitteilung des Dr. Kaufmann an Medizinalrat Dr. Thiele bezüglich der ärztlichen Fähigkeiten des Dr. Philippi anlangt, so kann dahin gestellt bleiben, ob die Antwort so gelautet hat, wie Dr. Jacoby sie in der Anzeige wieder gibt. Jedenfalls ist nicht nachgewiesen, daß sie wahrheitswidrig war. Dr. Philippi hat am 11. Januar den Luftröhrenschnitt ausgeführt, dafür daß er am 12. Januar -an diesem Tag fand die Ärzteversammlung in Cochem statt- und in der Folgezeit noch ärztlich tätig gewesen ist, hat Dr. Jacoby keine Beweismittel angegeben.

Der Angeschuldigte war hiernach freizusprechen.

Gez.: Dr. Trapet, Dr. Krabbel, Dr. Schoenemann, Dr. Rumpe, König

Beglaubigt: Horn Rechnungsrat

Es verwundert zunächst etwas, dass dieses nicht alltägliche Ereignis keinen Eingang in die Gevenicher Schulchronik gefunden hat.
Auch wenn es für das Dorf an sich nicht von essentieller Bedeutung war, so ist doch anzunehmen, dass es als Dorfereignis und Dorfgespräch eine wichtige Rolle spielte, zumal Pastor Ley selbst am Ort des Geschehens zugegen war und im Urteil die Anteilnahme der Dorfbevölkerung am Schicksal des kleinen Aloysius deutlich wird. Ein Blick in die Schulchronik zeigt aber, dass am 11. Januar 1912, also am gleichen Tag an dem Dr. Philippi das Leben des Kindes zu retten versuchte, Lehrer Bersch in seinem Amt als Lehrer in Gevenich vereidigt wurde und er sicher mit anderen Dingen beschäftigt war. Vielleicht ist dies der Grund für die fehlende Erwähnung.

Wie der Zufall es wollte veröffentlichte die Rheinzeitung am 12. Januar, also fast auf den Tag genau 99 Jahre später, ein historisches Foto eines Oldtimers.  Dies ist zunächst nichts Ungewöhnliches. Nur dass im dazugehörigen Bildtext ein Dr. Philippi (im Wagen vorne rechts) genannt wurde. Eine kurze Recherche im Internet führte mich auf die Internetseite von Herr Abresch und die dort eingestellte ausführlicher Lebensbeschreibung zu Dr. Philippi und dessen Wirken in Wissen. Dieser Text brachte die Gewissheit, dass der im Foto abgebildete Dr. Philippi eben jener ist, der seinerzeit in Gevenich sein -gerichtlich bestätigtes- ärztliches Geschick bewies.


An dieser Stelle nochmals ein herzliches Dankeschön an Ewald und Franziska Jahnen und Marita Kohl, die mir sehr behilflich waren. Besonderer Dank an Rudolf Tibo und Herrn Abresch für die Überlassung des Originalurteils und Herrn Kempf für die Übersendung des genannten Fotos und das Einverständnis, es auch hier auf der Gevenicher Internetseite veröffentlichen zu dürfen.

Noch eine Anmerkung zum Abschluss: Das von Dr. Philippi behandelte Kind Aloysius Jahnen war ein Mitglied der Familie Johann Jahnen II (Klänjohne genannt). Aus der Schulchronik geht hervor, dass die Familie Ende Dezember 1937 mit damals 7 Kindern nach Oerbke im Kreis Fallingbostel verzogen ist, da der sehr kleine bäuerliche Betrieb die Familie nicht ernähren konnte.

Im März 1938 wurde der Besitz zwangsversteigert. Die einzelnen Parzellen wurden von verschiedenen Landwirten erworben. Die Gebäude steigerte der Landwirt Josef Schneider, der bis dahin im "Hellenweg" gewohnt hatte.

* moribund = todgeweiht, dem Tode geweiht, dem Tode nahe

H.E.